Wenn du auf dem Cappuccino die «46» drauf hast, bist du in Tavullia. Valentino Rossis Heimat. Das ist zwar nicht gleich hier um die Ecke, aber Rossi fährt dies› Wochenende um die MotoGP-Weltmeisterschaftsentscheidung und das muss ich – neben dem Lake Garda-Marathon – auch noch irgend wie unter meinen Hut kriegen. Um die Ecke liegt eher der Comer See, wo George Cloony ein Haus besitzt. Gut – eine Villa. Oder meinet wegen eine Anwesen. Dann halt ein Anwesen mit der Tendenz zum Palast mit Seeanschluss und Bootsanlegestelle. Und kein fliessend Wasser! Da kommt ausschliesslich Champagner aus den Wasserhähnen – die Klospülung eingeschlossen!
Und böse Zungen behaupten, Clooney sähe besser aus wie ich. Zudem habe er eine gigantische weibliche Fan-Gemeinde [Na und?]. Zwei zu null, Clooney. Sein Stundenlohn übersteigt den meinigen nicht unwesendlich. Stimmt. Drei zu null. Nur, was nutzt dem Schönling all die Kohle, wenn er nicht ‹mit umgehen kann? Kauft eine Hütte am Comer See. Ich hätte für mich eine Villa am Nordzipfel des Garda See gekauft. Da ist das Leben viel angenehmer, ruhiger. Und schöner ist es vielleicht und sogar.

  • Und hätte ich meine Hütte da, wo ich sie hätte, wenn ich eine hätte, hätte auch ich Unmengen von Kohle.
  • Das hätte unmittelbaren Einfluss auf mein wahrgenommenes Sex-Appeal bei der weiblichen Fan-Gemeinde.
  • Des Weiteren finde ich, nämlich der Clooney ist der Hässliche von uns. Schon steht’s unentschieden, drei zu drei.
  • Aber meine Hütte würde unbestritten da stehen, wo’s schöner ist. Clooney drei, ich vier Punkte!
  • Eine weitere Gemeinsamkeit: Weil zu blöd zum Motorradfahren, hat sich Schorsch neulich eine Rippe gebrochen. Zwecks kennen lernen des Waldes fiel mir auch schon ‹mal der Helm vom Mopet, mitsamt Inhalt versteht sich. Beide gleich blöd, beide punkten: vier zu fünf!

Die tiefere Deutung aus dem Berechnen der besseren Partie für die Damen ist, wie wunderprächtig die Landschaft, wo der Lake Garda Marathon statt fand, ist.
Die Gegend um Riva del Garda ist abwechslungsreich. Strände, Steilküsten, Promenaden und auf gewaltigen Felsen sind monumentale Burgen montiert. Die stehen seit Jahrhunderten da oben, oder ihre Überbleibsel, eindrucksvolle Ruinen.  Der Tourismus, sanfter als bei Como. Weniger Urbanisation, mehr Landschaft. Weniger Verkehrsaufkommen, mehr Vorwärtskommen. Prächtige Villen mit gepflegten Gärten. Zypressen, Palmen und Oleander sind die Favoriten der Grünabteilung. Die Ortschaften sind schön hergerichtet. Nirgends versaut eine moderne, grossflächig verglaste Betonvilla das Ortsbild. Säulenreihen in Terrassengärten mit Rosenstöcken und Reben füllen den Freiraum zwischen den Gebäuden aus.
Ich bin in Limone sul Garda; in dieser Region errechnen sich Zimmerpreise per Subtraktion, aus vergleichbaren Angeboten bei Como. Perfekt auch, mein Hotel liegt 100 Meter vor der Startlinie des morgigen Rennens. Die Gastfreundschaft lässt keine Wünsche offen. Mit «Antipasta, Fisch oder Pizza?» beschäftigen sich die Gelüste. Sitze unter freiem Himmel beim Hafenwirt. Erfrischender Hauswein kühlt das Halszäpfchen. Die Dämmerung bringt Lichtspiele hervor. Beleuchtete Promenaden, Gärten und Villen. Mit Scheinwerfern bestrahlte Felsklippen und Kirchenfassaden. Ich nehme einen Schluck Wein. Die Lichter widerspiegeln auf dem See. Wellen funkeln. Ist das nicht schön? Noch ein Schluck. Ich werde sentimental. Und romantisch. Ich bin alleine – «Scheissdreck!»
Dabei hat alles so gut begonnen. Bin nämlich mit dem Motorrad hierher gereist. Bewusst solo. Mein insgeheimer Plan war nämlich nicht unbedingt hierher fahren zum geschwind Marathonlaufen, sondern geschwind hierher fahren, zum Marathonlaufen. Marathon als Alibi. Flott über die Passstrassen nach Norditalien wetzen. Aber das durfte ich zu Hause so nicht deklarieren. Am Kabel ziehen, dass kein Auge trocken bleibt, das die Devise. Zwar gibt’s hier auch Verkehrsschilder, Sicherheitslinien und doppelte, die dienen den Italienern anscheinend nur als Dekoration und Männer besitzen keinen Sinn für Dekoration. Frauen wissen das. Zudem sind wir im Land, wo Ferrari erfunden wurde. Und ich bin von da, wo Tom Lüthi erfunden wurde und notabene auch Mann und was die Italiener können, … Am Ziel bin ich drum hundemüde. Die Arme schmerzen, der Nacken steif. Hänge im Polstersessel der Strandkneipe, wie Rocky Balboa nach Runde 13. Ich bin kaputt. Und morgen ist Marathon –  «Scheissdreck!»
Der Lake Garda Marathon findet zum ersten Mal statt. Alles ist gut organisiert. Die Strecke führt ums Nordende vom Garda See, von Limone sul Garda nach Malcesine. Es ist eine Hauptstrasse, weil: Es ist die einzige Strasse. Darum auch die Marathonstrecke. Konsequent italienisch wird sie für den Event komplett gesperrt. Eine Umfahrungsmöglichkeit wird deshalb nicht ausgeschildert, weil es keine gibt! Wenn in Italien Marathon ist, geht man zu Fuss – alle! Alternativ gibt’s nur noch den Fährbetrieb. Kostenlos werden zusätzliche Boote eingesetzt, aber nur für die Läufer. An Deck, Platz zum aussuchen. Nichtläufer haben gefälligst die Kursschiffe gebührenpflichtig zu benutzen und sehen zu ob sie einen Sitzplatz finden. Läufer haben Vorrang; wir sind in Italien, der grossen Marathonnation. Der Heimat der Bordins, Baldinis und vieler starker Läufer. Alles typische Italiener am Start: gepflegtes Äusseres, getrimmter Kurzhaarschnitt, brauner Teint, der Marathon-Outfit passt in Schnitt, Grösse und Farbe und keiner stinkt am nach Dul-X. Nur eines stört mich: Sie sehen alle schnell aus.
Oft fühle ich mich zu Beginn eines Rennens super und schnell, und genau so oft ändert sich das unterwegs ins Himmeltraurige. Beim Sprint aus Limone war das aber komplett anders: Ich fühlte mich himmeltraurig und es sollte so bleiben. Ablenkung bringt der Blick auf die Berge und über die Bucht. Da hängen Surfer träge im Trapez an ihre Segel festgebunden; lassen sich vom Wind schieben. Derselbe Wind, der uns entgegen pfeift und die Aufgabe erschwert. «Zum Glück gibt’s eine Menge Tunnels auf dem Weg nach Riva del Garda!», irre ich mich, denn in den Tunnels herrscht genau so Windstärke 7 1/2, so kommt’s mir vor. So viel wie’s vorne reinbläst, muss logischerweise hinten wieder raus und dagegen laufen wir.
Durch Riva und entlang der Promenade ist Schluss mit Gegenwind. Endlich! Die Quittung: Es wird warm. Das Mitteldrittel vom Kurs verläuft vom See weg ins Hinterland nach Arco. Eine weitläufige, eindrucksvolle Burg- und Ruinenanlage hängt über der Stadt am Fels. Zypressen zwischen den Gemäuern.

Irgendwo parkt das Wohnmobil von Heiners Eltern. Sind Deutsche, aber immer mit Schweizerfahne am Strassenrand. Er kommandiert: «Andy! – Hau druff!» Guter Plan, aber wie?
Laufe unterdessen in der Stärkeklasse «Einbeinige und Lahme»; Heiners Vater konnte das nicht wissen. Mit 43′ 30» beim 10er zwar für meine Verhältnisse vernünftig zurückhalten und gemäss Marschtabelle gestartet, aber für den aktuellen Trainingszustand doch zu schnell, was man dämlicherweise immer erst im Nachhinein merkt. Jedenfalls: «Andy! – Hau druff!» ist moselfränkisch und bedeutet: «Andy! – Hau drauf!», das versteht eigentlich jeder und jeder denkt jetzt, wieso erklärt der Idiot, was man sowieso begreift? Ganz einfach, es war eher so zu verstehen, dass auf Andy druff gehauen wurde, also: «Andy! Haut drauf!» war wohl die Losung. Jedenfalls mir kam’s so vor.
Zu Hause wurde ich in der Sache Heiner grammatikalisch, mosel und fränkisch auf. Aber faktisch ändert dadurch in dieser Berichterstattung nicht das Geringste. Ums ‹mal auf den Punkt zu bringen: Mir ging’s liederlich. Oder so gesagt: Durch die Ortschaften hatte es immerhin und nicht gerade wenige nicht gerade hässliche Italienerinnen, die uns – also mir – zujubelten. Doch mir hätten alle Gina Lollobrigidas, Claudia Cardinales und Sophia Lorens dieser Welt, sogar ihre Töchter, den Buckel runter rutschen gekonnt.
Noch anders formuliert: Morgens beim Frühstück verfolgte ich Moto GP am Fernseher. Valentino Rossi verlor die Weltmeisterschaft. «Ein böses Omen, für meinen Start?», fragte ich. Ich sollte Recht kriegen. Allerdings arbeitete sich Rossi von hinten nach vorne durch. Alle eingeholt, überholt und in Grund und Boden gefahren. Bis ihn technische Probleme mit der Bereifung heimsuchten. Der Mann war eine Klasse für sich, ganz im Gegensatz zu mir. Ich arbeitete mich von vorne nach hinten durch, aber am Gummi meiner Schlappen kann’s nicht gelegen haben. Um auf unseren Bekannten zurückzukommen und es dabei bildlich darzustellen. So saublöd wie George Clooney im Vergleich zu Rossi und Co. auf dem Töff aussieht, so saublöd sah ich heute beim Marathon aus.

Unterdessen gibt es wieder das Seeufer aus nächster Nähe zu besichtigen, zwischen Torbole und Malcesine. Der Wind bläst von hinten, nur – bringen tut das jetzt auch nichts mehr. Weit vorne ist die Burg von Malcesine in Sicht.
Wie war das nochmal: «Och, da bei Kilometer 40 kommt dann diese Steigung, aber die ist nicht allzu …» Mein lieber Mann – die Bescherung ist viel besser zu erkennen, wie ich’s wahr haben möchte. Gemeint ist, ich bin noch so weit weg, dass ich noch gar nichts sehen können wollen sollte. Doch ich sehe. Deutlich!
Déjà-vu all over again: Fühle mich ähnlich deplatziert, seelisch gequält und niedergeschlagen, wie gestern Abend so alleine am romantischen Ufer in Limone. Nur, heute kommen noch körperliche Schmerzen dazu.
«Ich will nach Hause!» Schleiche die Strecke hoch. Alle meine Zeitreserven sind verbraucht. Noch langsamer laufen, darf nicht sein, denn 10 Minuten nach der voraussichtlichen Zielankunft, legt die Fähre ab. Es wird knapp.
So kommt’s, dass ich statt des wohlverdienten Zieleinlaufes, einen Zieldurchlauf habe.
Kein Anhalten. Hetzen. Wasserflasche packen. Medaille an die Birne gehangen gekriegt. Chip abgeben, aber wo? Ab zur Pier, aber wo? – Gerade noch geschafft.
Zurück im Hotel, der Wirt präsentiert die Online-Resultate und erklärt stolz, welcher Italiener, da ganz vorne in der Rangliste, bei ihm übernachtete. «Der sass beim Morgenessen an diesem Tisch, der an diesem und dieser an jenem Platz.», belehrt er mich. Diese Tischordnung bezog sich auf die zweite Seite der Rangliste. Ich schaue gar nicht richtig hin. Wie er weiterblättert, seh› ich noch zu oberst ein Schweizerkreuz.
Dachte nur: «Ohä, ein Schweizer ganz top – nicht schlecht! Von wegen seine Italiener!» Den Namen erkannte ich nicht mehr. Ein kurzer Name, begann glaube ich mit «H».
Mit «Hhhhaaaa!»
Ich kriegte so blitzschnell Hühnerhaut, dass mir die hochschnellende Unterarmbehaarung wegflog. Mist, was heisst hoch-scrollen auf italienisch? Kenne kein Italienisch: «Porco miseria!», ausser Flüche. Der begriff mich nicht, drum löste ich ihn ungefragt als Bediener am PCs ab. Hochgeblättert. Verdammt, der heisst Heiner – Heiner ist 11er! Dann waren wir ja gar nicht so schlecht.
Was mir beim Laufen noch nie gelang, schaffte ich Schluss und endlich auf dem Heimweg. Bin in einer äusserst sportlichen, gebückten und darum überhaupt nicht after-Marathon-tauglichen Sitzposition, tüchtig im Getriebe vom Mopet für Unruhe besorgt. Den mehr oder weniger unregelmässigen Vorwärtsschub des Untersatzes mit ständig wechselnder Körperspannung kompensierend, trifft mich der Fluch von George Clooney. Mein Schmerzgeschrei geht im Röhren des Auspuff unter, als mich ein hundsmiserabler Wadenkrampf mitten in der Beschleunigung heimsucht.
Nichtsdestotrotz, am rechten Ufern nach Süden wedelnd, habe ich mich gebührend von der wunderschönen Gegend am Garda See verabschiedet. Aber nicht als halbtoter Marathonläufer, sondern mich als neugeborener Motorradpilot hochachtungsvoll verneigt – mit tiefen Schräglagen nach dem Motto: » Andy! – Hal droff!»

Schreiben Sie einen Kommentar